Julia Romero

30. Juli 2024

Im Gespräch mit Experte Lars Tappert: Das EU Renaturierungsgesetz und warum wir einen Nettogewinn für die Biodiversität brauchen

Derzeit sind weltweit fast 30 % aller Säugetierarten vom Aussterben bedroht, der globale Living Planet Index (LPI) zeigt zwischen 1970 und 2018 einen durchschnittlichen Rückgang der erfassten Bestände von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien um 69 Prozent. Die ist nicht nur erschreckend und bedrohlich für unsere menschliche Existenz, sondern hat auch eine große wirtschaftliche Dimension: Über 50 % des globalen BIP sind in hohem und mittlerem Maße von der Natur abhängig.  

Frog behind leaves

Ein Schritt in die richtige Richtung ist sicherlich das bereits im Februar auf den Weg gebrachte und nun von den EU-Mitgliedstaaten ratifizierte Renaturierungsgesetz. Im Gespräch mit Lars Tappert, Experte und Thought Leader für Biodiversitätsstrategien, klären wir, was nun auf die Unternehmen in Europa zukommt, was die größten Herausforderungen in der Umsetzung sind und warum wir mit jedem Vorhaben die Biodiversität nicht nur bewahren, sondern sie auch in besonderem Maße fördern müssen.

Lars, Bis 2030 müssen nun 20 % der Land- und Meeresflächen der EU und bis 2050 alle sanierungsbedürftigen Ökosysteme wiederhergestellt werden. Die Mitgliedstaaten müssen regelmäßig nationale Wiederherstellungspläne vorlegen. Besonders Unternehmen, die durch ihr wirtschaftliches Handeln starken Einfluss auf die Ökosysteme nehmen, werden Regularien unterworfen werden. Was kommt da auf die Unternehmen zu?

Lars Tappert:

Grundsätzlich beinhaltet das neue Gesetz spezifische, rechtsverbindliche Ziele und Verpflichtungen für die Wiederherstellung der Natur in bestimmten Ökosystemen - von Land- über Meeres- und Süßwasser- bis hin zu städtischen Ökosystemen. Zunächst haben aber die EU-Mitgliedsstaaten bis zwei Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung (also bis Mitte 2026) Zeit, der Kommission nationale Wiederherstellungspläne vorzulegen, aus denen hervorgeht, wie sie die Ziele erreichen wollen. Wie diese aussehen, ist jetzt noch nicht bekannt.

Klar ist aber, dass sich das Inkrafttreten des Gesetzes auf eine Vielzahl von Industriesektoren auswirken wird, insbesondere auf solche, die in hohem Maße von Land und Infrastruktur abhängig sind. Es ist zu erwarten, dass Unternehmen ihre Geschäftsmodelle nachhaltiger gestalten müssen, vor allem in Bezug auf Biodiversität.

Gleichzeitig ist das Gesetz eine Chance für Unternehmen. Es wurde endlich ein klarer rechtlicher Rahmen geschaffen. Somit können nun konkrete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Natur eingeleitet werden, Innovationen gefördert werden und neue Märkte entstehen. Die Unternehmen verfügen nun über einen Fahrplan, um nicht nur die Umweltauflagen zu erfüllen, sondern auch eine Vorreiterrolle beim grünen Wandel einzunehmen, wirtschaftliche Vorteile zu erschließen und gleichzeitig die Resilienz der für ihre Tätigkeit wichtigen Ökosysteme zu sichern.

Über diesen rechtlichen Rahmen hinaus bietet es den Unternehmen die Chance, an der Spitze der nachhaltigen Entwicklung zu stehen, ihre betriebliche Effizienz zu verbessern und die wachsende Nachfrage nach umweltfreundlichen Produkten und Dienstleistungen für sich zu nutzen.

Indem die Unternehmen die Wiederherstellung der Natur in ihre Strategie aufnehmen, können sie Risiken mindern, ihre Lieferketten schützen und widerstandsfähiger machen. Damit sichern sie sich die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit und Profitabilität.

„Das Renaturierungsgesetz ist eine Chance für Unternehmen, eine Vorreiterrolle in ihrer Branche einzunehmen, unternehmerische Risiken zu mindern, Lieferketten zu schützen und ihre zukünftige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern."

Lars Tappert
Managing Consultant, Biodiversität und Ökosysteme

In deinem Insight Artikel Wie biologische Vielfalt Mehrwert für Unternehmen schafft - Ramboll Group sprichst du von drei Schritten, die Unternehmen jetzt gehen müssen, um die Risiken des Rückgangs der Biodiversität und der auf sie zukommenden regulatorischen Anforderungen zu minimieren. Welche besonderen Herausforderungen siehst du hier aus Deiner Erfahrung in den Projekten?

Lars: Spannende Frage. Ich sehe hier grundsätzlich drei große Herausforderungen:

Abteilungsübergreifende Zusammenarbeit Erstens ist die die Art und Weise wie Biodiversität im Rahmen neuer Gesetze wie beispielsweise der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) betrachtet wird, ist für die meisten Unternehmen neu. Das fängt schon mit der Definition von Biodiversität an. Bisher war es eher ein Nischenthema im Bereich von Abteilungen wie Genehmigungsmanagement oder EHS. Diese müssen sich nun konsolidieren, enger zusammenarbeiten und sich mit den neuen Anforderungen vertraut machen.

Politische Unsicherheit Zweitens führt die politische Lage zu großen Unsicherheiten. Wenn eigentlich längst beschlossene Gesetze in letzter Minute blockiert werden, ist es schwer sich auf etwas einzustellen. Viele Unternehmen warten deshalb verständlicherweise noch ab was konkret umgesetzt wird. Leider ist das ein gefährlicher Pfad, da der Umfang der Dokumentation und auch die Tatsache, dass die erforderlichen Daten meist erst noch erhoben werden müssen einen langen Vorlauf benötigt und oft entsprechendes Personal erst eingestellt werden muss. Hier sind schon jetzt Engpässe vorhanden und Schwierigkeiten abzusehen.

Fehlende Beispiele Drittens gibt es noch wenig Fallbeispiele, die eine Orientierung vorgeben können, geschweige denn sektorweite Best Practice Beispiele. Zwar leisten Initiativen wie die Taskforce on Nature-related Financial Disclosures (TNFD) oder das Science Based Targets Network (SBTN) großartige Arbeit in der Publikation von Leitfäden, am Ende muss aber dennoch jede Firma für sich selbst entscheiden, was sie berichten wollen und wie sie ihre Strategie aufbauen wollen. Dazu braucht es einen starken Entscheidungs- und Umsetzungswillen in der Unternehmensführung.

Ramboll hat eine Methode zur Messung der Biodiversität an Standorten in den USA entwickelt, die auf der britischen „Biodiversity Net Gain Metric“ beruht. – was genau ist das und inwieweit ist sie auch auf deutsche Unternehmen anwendbar?

Bisher richtete man sich bei Eingriffen in die Natur nach dem Prinzip der Vermeidungshierarchie. Beeinträchtigungen sollten im ersten Schritt vermieden werden. Ist das nicht möglich, sollte der Einfluss auf ein Minimum reduziert werden.

Schäden sollten also erst dann wiederhergestellt werden, wenn sie schon entstanden waren - im schlimmsten Fall wurden sie dann einfach an anderer Stelle kompensiert. Das Problem hierbei ist, dass dieses Konzept darauf abzielt, die Natur nicht in einem schlechteren Zustand als zuvor zurückzulassen. Oberste Prämisse war also, so wenig wie möglich in die Natur einzugreifen. Es zeigt sich nun sehr eindringlich an einem starken Verlust der Biodiversität und natürlichen Ökosystemen, dass dieses Konzept bei Weitem nicht ausgereicht hat. Was wir heute brauchen, ist einen Nettogewinn für die Natur. Großbritannien hat dies erkannt und das „Biodiversity Net Gain“ Konzept eingeführt. Dort müssen Bauträger gesetzlich verpflichtend ein Minimum von 10 % mehr Biodiversität erreichen. Das bedeutet, dass ein Bauvorhaben zu mehr oder qualitativ besserem natürlichen Lebensraum führt als vor dem Bau.

Biodiversität messbar machen

Das Problem mit der Biodiversität ist die Komplexität, sie lässt sich nicht so einfach auf wenige Kennzahlen runter brechen. Genau das ist aber notwendig, man benötigt einen Ausgangswert, um basierend darauf einen prozentualen Gewinn berechnen zu können. Da dies in England eine gesetzliche Anforderung ist, wurde hier die genannte Methode (Net Gain Metric) erarbeitet.

Hierbei wird sich das jeweilige Habitat genau angeschaut. Für jedes Vorhaben wird in einer Kombination aus Merkmalen wie Fläche, strategische Bedeutung, Seltenheit und Zustand eines Habitats ein Punktescore für eine Fläche berechnet. Der Ausgangswert wird dabei als Grundlage genommen, die Flächennutzung zu verändern. Es können beispielsweise Maßnahmen vorgeschlagen werden, die den Zustand eines Habitats verbessern (z.B. in dem man einen natürlichen Vegetationsstreifen unter einer Baumreihe etabliert), oder indem man Habitate mit geringem Wert für die Biodiversität mit wertvolleren Habitaten austauscht (z.B. einen englischen Rasen in eine Wildblumenwiese). Unter Annahme der Umsetzung der Vorschläge wird nun der hypothetische Nettogewinn berechnet und Kosten gegen Nutzen abgewägt. Am Ende entscheidet der Bauträger, was umgesetzt werden soll, es müssen aber mindestens 10% Nettogewinn für die Biodiversität erreicht werden.

Da diese Methode speziell für England entwickelt wurde, bezieht sie sich auf die typischen Habitate die auf den britischen Inseln vorkommen. Um sie für einen anderen Ort nutzbar zu machen, muss sie an die lokalen Gegebenheiten angepasst werden. Ramboll hat dies in Kooperation mit NatureServe zur kostenfreien Nutzung für die USA durchgeführt. Sie kann z.B genutzt werden zur:

  • Bewertung des Biodiversitätswerts innerhalb eines Standorts oder eines bestimmten Gebiets.
  • Vergleich des Biodiversitätswerts zwischen verschiedenen Landnutzungsformen.
  • Vergleich des Biodiversitätswerts vor und nach der Wiederherstellung.
  • Transparentes Messen und Offenlegen von Nettoverlusten oder Nettogewinnen an biologischer Vielfalt, in Übereinstimmung mit globalen Berichtsrahmen und -richtlinien.

Diese erste Version der Metrik konzentriert sich auf Lebensräume im Nordosten der USA und wird voraussichtlich noch 2024 für die übrigen Lebensräume in den USA und Kanada veröffentlicht. Künftige Veröffentlichungen werden auch weitere Lebensräume in Amerika, aber auch Europa beinhalten. Aktuell nutzen wir die Methode bereits für Projekte mit deutschen Kunden, jedoch steht sie der breiten Bevölkerung noch nicht öffentlich zur Verfügung.

„Was wir brauchen ist ein Nettogewinn für die Natur. Mit der Net Gain Metric können wir Biodiversität messbar machen und konkrete Handlungsempfehlungen aussprechen.“

Lars Tappert
Managing Consultant, Biodiversität und Ökosysteme

Erfreulicherweise beginnen Unternehmen mit Rambolls Hilfe auch hierzulande damit, das Thema Natur in eigenen Biodiversitätsstrategien zu adressieren. Gibt es Branchen, die hier besonders betroffen sind und sich früher als andere auf die Regularien vorbereiten müssen?

Lars: Naturgemäß beschäftigen sich zunächst die Unternehmen damit, deren Geschäft stark abhängig ist von einer intakten Natur und die dies erkannt haben (z.B. die Lebensmittelindustrie). Eigen- bzw. Geschäftsinteresse ist also ein starker Antrieb.

Darüber hinaus gibt es auch die Unternehmen, die aufgrund ihrer Größe und Internationalität gesetzliche Anforderungen erfüllen wollen und müssen. Hier wird es allerdings schwierig: Neue Gesetze wie die CSRD lassen einiges an Spielraum für die Interpretation was gesetzlich verpflichtend ist und was ein „nice to have“ ist. Die Behandlung des Themas innerhalb einer eigenen Biodiversitätsstrategie, die auch die Berichterstattung unter der CSRD enthält, ist daher so wichtig.

Für eine solche strategische Betrachtungsweise wird ermittelt, welche Abhängigkeiten von der Natur bestehen und welchen Einfluss die Geschäftstätigkeit auf sie hat, welche Ambition ein Unternehmen hat, welche Mittel zur Verfügung stehen, und Risiken in Chancen umgewandelt werden können. Nicht zuletzt stellt sie sicher, dass bestehende Aktivitäten, auch aus anderen Initiativen wie Klimaschutz, im Einklang miteinander sind und dort ansetzen, wo sie am effektivsten sind.

Gibt es Beispiele über Europa hinaus, wo etwas Ähnliches schon umgesetzt wurde, oder ist Europa hier Vorreiter?

Lars: Wie bereits erwähnt, sticht England mit seiner neuen „Net Gain“ policy heraus. Eine ähnlich effektive gesetzliche Verpflichtung wäre auch für Europa wünschenswert.

Die EU setzt hier aber nun mit dem Green Deal und der Biodiversitätsstrategie weltweit neue Maßstäbe. Neue Gesetze wie die Regulation on Deforestation-free products, Nature Restoration Law, CSRD etc. zwingen auch globale Unternehmen, die auf dem europäischen Markt aktiv sind, zur Einhaltung.

Wenn Du einen Wunsch frei hättest, was würdest Du Dir wünschen, wo wir beim Thema im Jahr 2030 stehen sollten?

Soll es ein realistischer Wunsch sein? Dann würde ich mir wünschen, dass die Gesellschaft und auch die Unternehmen ihre Abhängigkeit von der Natur erkennen und sich für deren Erhalt einsetzen.

Wenn ich ein bisschen träumen darf, würde ich sagen, ich wünsche mir, dass nicht weiterhin notwendige Themen wie Naturschutz aufgrund politischer Ideologien abgelehnt und verdammt werden. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder in sich eine Naturverbundenheit besitzt. Es geht nicht darum, dass der Mensch oder irgendeine Art ausstirbt. Arten kommen und gehen, und nach uns wird es eine neue Natur geben. Es geht darum, das Leben, wie wir es kennen, in unserem eigenen egoistischen Interesse zu erhalten. Die Auswirkungen des Menschen auf das Klima und die biologische Vielfalt sind messbarer und offensichtlicher denn je. Es muss akzeptiert und verstanden werden, dass wir eine Kaskade von Auswirkungen verursachen, die sich gegenseitig verstärken, und niemand kann genau vorhersagen, wie es enden wird. Nur eines ist sicher: Es wird nicht mehr so sein, wie wir es kennen und lieben. Das betrifft nicht nur künftige Generationen, wir alle werden das noch zu unseren Lebzeiten spüren.

Ein Plädoyer für die Natur und das Leben, denn wir alle sind ja Teil der Natur und aus ihr entstanden. Danke Lars, für das Gespräch und die interessanten und inspirierenden Einblicke in Deine Arbeit!

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  • Lars Tappert

    Managing Consultant

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    Lars Tappert