Lara Alvarez, Samantha Deacon

2. Juni 2020

Vorteile der Offshore-Infrastruktur für die Meeresökosysteme

Biologische Vielfalt und Ökosystem müssen bei der Stilllegungsplanung an erster Stelle stehen

Picture of a construction under water.

Lara Alvarez, Unternehmensberaterin, und Samantha Deacon, leitende Unternehmensberaterin

Das fragile Ökosystem der Meere ist durch den Klimawandel, die Abfall- und Ressourcenwirtschaft und die Zerstörung von Lebensräumen in großer Gefahr. Und die Debatte über die treibenden Kräfte des OSPAR-Abkommens zum Schutz der Nordsee wird neu entfacht. Ist es also Zeit, einen ganzheitlicheren Ansatz zu wählen und die Nachhaltigkeit der Stilllegung von Offshore-Infrastrukturen zu bewerten? Die Regierungen sollten eine Reihe von Optionen prüfen, die der Verantwortung für die Umwelt gerecht werden und zudem wirtschaftlich. Sie sollten berücksichtigen, wie andere Länder wie Malaysia, die USA und Mexiko stillgelegte Plattformen erfolgreich zur Verbesserung der Fischbestände nutzen.

Kostenabschätzung

Großbritannien ist gemessen am Wert einer der größten und am schnellsten wachsenden Märkte für die Stilllegung von Offshore-Anlagen für fossile Rohstoffe. In den nächsten sieben Jahren sollen fast eine Million Tonnen veralterter Öl- und Gasanlagen, Pipelines und Unterwasserausrüstung entfernt werden. Gegenwärtig verfolgen die EU-Staaten eine Politik der vollständigen Beseitigung aller strukturellen Elemente von Offshore-Öl- und Gasplattformen. Wissenschaftliche Erkenntnisse warnen jedoch davor, dass die vollständige Beseitigung solcher Strukturen in Wirklichkeit negative Folgen für wertvolle marine Ökosysteme haben kann.

Ihre Beseitigung ist nicht nur technisch komplex. Es ist auch unverhältnismäßig teuer: Die Oil & Gas Authority und HM Revenue and Customs gehen von Kosten in Höhe von 61 Milliarden Pfund für diese Maßnahmen aus. Für die Steuerzahler bedeutet das aufgrund der hohen steuerlich absetzbaren Ausgaben eine zusätzliche Belastung von schätzungsweise 24 Milliarden Pfund.

Zusätzlich zu den Kosten und technischen Hürden erfordert die hohe Komplexität eines Stilllegungsvorhabens auch Kompromisse zwischen einer Reihe von Faktoren. Zu berücksichtigen ist die Sicherheit der Techniker, Störung oder Auslöschung von Lebensräumen und den von ihnen abhängigen Meereslebewesen, der Beseitigung der entstandenen Wechselwirkungen zwischen den Plattformen, der Wiedereröffnung von Gebieten für die Grundfischerei, die Freisetzung vergrabener Verunreinigungen und die CO2-Bilanz der Luftemissionen, die im Zusammenhang mit der Beseitigung der Pfahlbauten steht.

Wissenschaftliche Forschung

Diese Vielzahl von Überlegungen hat dazu geführt, dass mit der Unterstützung durch Forschungsprogramme wie INSITE die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen rasant zugenommen hat, die Auswirkungen der Beseitigung dieser vom Menschen geschaffenen Strukturen in der Nordsee genauer unter die Lupe nehmen.

Die ersten Ergebnisse decken sich mit den Erkenntnissen aus umfangreicheren Untersuchungen, wie z.B. im Golf von Mexiko. Es scheint nun ein breiterer Konsens darüber zu bestehen, dass die negativen Auswirkungen von Offshore-Stilllegungen in der Nordsee und ihre schädlichen Auswirkungen auf die dortigen marinen Ökosysteme unbedingt in Betracht gezogen werden müssen. Viele dieser Anlagen in der Nordsee sind seit über 30 Jahren in Betrieb und haben neue Lebensgemeinschaften gebildet. Dazu gehören geschützte Kaltwasserkorallen, die sich an den Strukturen festsetzen, sowie mobile Organismen wie Krebstiere und Fische, die die vielfältigen ökologischen Nischen, die diese strukturell komplexen Lebensräume bieten, für ihre Ernährung oder Fortpflanzung nutzen. Diese Zunahme der Heterogenität des Meeresbodens und die Bereitstellung sicherer Zonen, die Fische anzieht und die Ansiedlung sowie das Wachstum von Larven und pelagischen Jungfischen fördert, verbessert letztendlich die Fischerei.

Unterwasserstrukturen als Meeresschutzgebiete

Aus der wissenschaftlichen Dokumentation geht hervor, dass die Plattformen aufgrund ihrer Sperrzonen, die die Fischerei und andere menschliche Störungen in ihrer Umgebung unterbinden, sowie wegen ihres Alters und ihrer isolierten Lage die gleichen Eigenschaften wie Meeresschutzgebiete haben. Solche Sperrzonen tragen dazu bei, das Benthos zu schützen und Überfischung zu reduzieren.

Der Verlust des Zugangs und die Verlagerung des Aufwands für die Fischerei kann teilweise durch die erhöhte Fangrate kompensiert werden, wenn Ausbreitungseffekte außerhalb der Sperrzonen auftreten, die die Fangmenge kommerzieller Fischarten pro Aufwandseinheit erhöhen. Einige Regierungen und Forscher befürworten daher die Einrichtung von Sperrzonen als Instrument zur Unterstützung der Bewirtschaftung der Meeresressourcen, zusammen mit zulässigen Gesamtfangmengen oder Fangverboten.

Das malaysische Fischereiministerium geht sogar so weit, Plattformen in etablierte Fanggebiete zu verlegen, um dort die Fischbestände zu erhalten und die Überfischung zu reduzieren. Es gibt auch Hinweise darauf, dass einige Anlagen ein Netzwerk aus künstlichen Riffen bilden und biologisch miteinander verbunden sind, so dass der Gesamtwert des Lebensraums und die darin entstandene Netzwerkproduktivität höher ist als die Vorteile ihrer einzelnen Komponenten.

Die falschen Annahmen der aktuellen Politik

Trotz dieser Beweise streben die britische Regierung und ihre Nordseeanrainer im OSPAR-Beschluss 98/3 weiterhin eine Politik des sauberen Meeresbodens an, die es verbietet, Anlagen ganz oder teilweise auf dem Meeresboden zu belassen, und die nach der Stilllegung die Rückkehr zum „natürlichen Zustand“ fordert. Diese Strategie verkennt, dass sich durch menschliche Aktivitäten veränderte Weichsediment-Ökosysteme im Laufe der Zeit zu einem künstlichen Riffhabitat entwickelt haben und dass die vollständige Entfernung der Plattformen zum Verlust dieses verbesserten Ökosystems führen würde - für immer.

Diese Politik geht fälschlicherweise davon aus, dass alle von Menschenhand geschaffenen Bauwerke einen geringeren ökologischen Wert haben als der ursprüngliche Lebensraum am Meeresboden vor ihrer Errichtung, und es mangelt ihr an Flexibilität bei Stilllegungsstrategien, die dem Vorsorgeprinzip widersprechen. Ausnahmen von einer vollständigen Entfernung dürfen nur aus technischen Gründen gewährt werden.

Eine dringend notwendige Debatte

Die Vielzahl an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die unbeabsichtigten Folgen der Stilllegung von Offshore-Anlagen in Verbindung mit der zunehmenden Intensität der Stilllegungsbemühungen und ihrer großen Investitionsprogramme sollten Großbritannien weltweit führend in nachhaltigen Stilllegungen machen.

Forschung und Entwicklung, die sich auf alternative Ansätze für die Stilllegung und Kostensenkungen für die Steuerzahler konzentrieren, sowie die Öl- und Gasindustrie sollten diese dringend notwendige Debatte über Stilllegungskonzepte in der gesamten Nordsee starten. Wir haben hier die Chance, die Auswirkungen einer groß angelegten Stilllegung auf die langfristige Nachhaltigkeit der Meeresökosysteme zu untersuchen und gegebenenfalls umzudenken.

Maßgeschneiderte Lösungen vermeiden unbeabsichtigte Folgen

Wenn wir die Umwelt wirklich schützen wollen, müssen wir der Komplexität und Vielfalt der Konstruktionen, Installationen und des Betriebs einzelner Öl- und Gasanlagen differenziert betrachten. Es müssen maßgeschneiderte Lösungen für jede einzelne Plattform ermöglicht werden, sowie ein breiteres Verständnis für die unbeabsichtigten negativen Folgen der Maßnahmen geschaffen werden.

Ein ganzheitlicher Ansatz sollte abwägen, und zwar den potenziellen Verlust eines wertvollen Ökosystems künstlicher Riffe und die Vorteile der dieser Ökosysteme in ihrem derzeitigen Zustand im Vergleich zu ihrer vollständigen Entfernung.

Unbeabsichtigte Folgen identifizieren und minimieren

Wichtig ist, dass dieser flexible Ansatz keineswegs ein Freibrief für Umweltverschmutzung sein darf, sondern dass Maßnahmen zur sicheren Stilllegung der Anlagen, wie z.B. die Innenreinigung der Pipelines, in eine ökologisch sinnvolle Stilllegung einbezogen werden müssen.

Eine gut durchdachte Stilllegungsstrategie würde unbeabsichtigte Folgen für die Umwelt erkennen und minimieren. Dies ist besonders wichtig, da die marinen Ökosysteme derzeit in großer Gefahr sind. Dazu gehören die Dezimierung der auf dem Meeresboden angesiedelten Fischbestände, der Verlust von Lebensraum und weiteren Teilen des Ökosystems im Rahmen des konventionellen Fischereimanagements sowie die durch den Klimawandel bedingten Veränderungen der Ozeanzirkulation und -schichtung.

Wissenschaftliche Analyse der Alternativen

Die Analyse der Stilllegungsalternativen für jedes einzelne Bauwerk sollte auf einer transparenten Bewertung beruhen, die sich auf solide wissenschaftliche Ansätze stützt, wie z.B. Ressourcen- oder Habitat-Äquivalenzanalysen, den Green Book Value-for-Money-Rahmen sowie eine durch die Ökosystemleistungen untermauerte Netto-Umweltnutzenanalyse (NEBA).

Entscheidend ist, dass die Bandbreite der Kosten, des Nutzens und der weiteren Auswirkungen der verschiedenen Stilllegungsoptionen ermittelt und die Abwägung klar dargestellt wird. Dadurch soll sichergestellt werden, dass ökologische und wirtschaftliche Auswirkungen den technischen, Kosten- und Sicherheitskriterien gegenübergestellt werden, um die richtige Entscheidung für jede einzelne Plattform als Teil einer Gesamtheit von biologisch verbundenen Anlagen zu treffen.

Stilllegung in der Zukunft

Letztlich wird die Herangehensweise der Regierung an die Stilllegung von Öl- und Gasplattformen beispielgebend für eine Reihe neuerer Offshore-Infrastrukturen wie Windturbinen sein, die in naher Zukunft ebenfalls stillgelegt werden müssen. Indem wir Zirkularität, Design, Installation und das Ende der Lebenszyklus neuer Infrastrukturen im Blick behalten, können wir sicherstellen, dass wir von der Öl- und Gasindustrie lernen. Die vollständige Einbeziehung dieser Aspekte in die frühen Projektplanungsphasen wird hoffentlich den Lebensraum in der Meeresumwelt verbessern und Störungen der Ökosysteme minimieren.

WEITERE INFORMATIONEN

Ramboll bewertet die Umwelt mit Hilfe von Netto-Umweltnutzenanalysen (NEBA). Eine NEBA ist ein Instrument zur Kosten-Nutzen-Analyse, das ökologische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, energetische, sicherheitstechnische und technische Machbarkeitsabwägungen unterschiedlicher Stilllegungsoptionen berücksichtigt. Weitere Kriterien können integriert werden, aber das Hauptaugenmerk liegt immer auf der biologischen Vielfalt und von den Ökosystemen erbrachten Leistungen. Die Entscheidungen können dann mit größerer Transparenz und in Kenntnis ihrer Konsequenzen getroffen werden. Es ist wahrscheinlich, dass Entscheidungen zur Optimierung eines Dienstes, wie z.B. die Erhaltung von Anlagenstrukturen für Laichhabitate und Aufwuchsgebiete, auch damit verbundenen Diensten wie der Nahrungsmittelproduktion durch die Fischerei zugute kommen. Solche Entscheidungen können besonders wichtig sein, wenn sie in einem größeren Zusammenhang getroffen werden, wie z.B. bei Berichten über eine Überfischung in der Region.

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