Vielleicht ist es eher wie bei drei Geschwistern: Wenn die Wirtschaft der dominante, respektierte ältere Bruder ist, dann ist die Umwelt die faszinierende, sich freimütiger ausdrückende jüngere Schwester und das Soziale als mittleres Kind zwischen den beiden eingequetscht wird häufig übersehen.
Das könnte sich bald ändern. Denn es wird immer deutlicher, dass Nachhaltigkeit nicht nur grün ist. Es geht nicht nur um erneuerbare Energien, verantwortungsvollen Konsum, Wiederverwendung, Klimaneutralität und so weiter – so wichtig diese Aspekte auch sind.
Line Dybdal, eine der Expertinnen für soziale Nachhaltigkeit bei Ramboll, erklärt, dass vor fünf Jahren etwas Wichtiges geschah, als die Vereinten Nationen die Ziele für nachhaltige Entwicklung unter dem Motto „Niemanden zurücklassen“ einführten:
„Damit stellten die Vereinten Nationen auf einmal Ziele und Vorgaben in Bezug auf persönliche Gesundheit und Wohlbefinden, Bildung, Gleichstellung der Geschlechter und Verringerung von Ungleichheiten in friedlichen und gerechten Gesellschaften und einiges mehr in den Vordergrund. Wenn man nämlich zum Beispiel mit Bürgermeister:innen spricht und ihnen zuhört, wird deutlich, dass die zunehmenden sozialen Spannungen und ein gebrochener Gesellschaftsvertrag ebenso viel Kopfzerbrechen bereiten wie der Klimawandel, die rasante Urbanisierung oder die demografischen Veränderungen, die die öffentlichen Finanzen belasten.“
Die sozialen Aspekte sind der Schlüssel zur Realisierung wirklich nachhaltiger Lösungen
Das heißt, dass sich eine Gesellschaft nicht nachhaltig entwickeln kann, wenn sie nicht auch sozial nachhaltig wird. Aber was macht die soziale Nachhaltigkeit aus?
In Line Dybdals Worten ist die soziale Nachhaltigkeit eine Verpflichtung zur Schaffung von sicheren, gesunden und integrativen Institutionen, Gemeinschaften und Gesellschaften, in denen alle Bürger:innen ihr volles Potenzial ausschöpfen können - ohne die lebenden und zukünftigen Generationen zu gefährden.
„Es geht darum, politische Maßnahmen, Strategien und Veränderungen zu entwerfen und umzusetzen, die die Chancengleichheit aller fördern, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, politischer Einstellung, sexueller Orientierung oder Behinderung, und die den Gesellschaftsvertrag stärken, indem sie Vertrauen in unsere Institutionen, sozialen Zusammenhalt und gegenseitigen Respekt aufbauen,“ sagt sie.
Erschließung des vollen Potenzials der Menschen
Soziale Nachhaltigkeit braucht es überall. In Grundschulen und in der Weiterbildung, im Gesundheitswesen, im Wohnungsbau sowie in der Stadtplanung und am Arbeitsplatz.
„Bezogen auf einen reaktiven Ansatz, geht es bei der sozialen Nachhaltigkeit darum, den Menschen keinen Schaden zuzufügen und keine weiteren Ungleichheiten zu schaffen. Aus proaktiver Sicht, hingegen, ist soziale Nachhaltigkeit eine Initiative zum aktiven Abbau und zur Überwindung bestehender Ungleichheiten, die es jedem ermöglichen, sein volles Potenzial als Individuum in einer relationalen Welt zu entfalten,“ erklärt Line Dybdal.
Ein übergreifender Diskurs
Das ist die Sichtweise aus der Praxis. Einige Wissenschaftler:innen bezeichnen die soziale Nachhaltigkeit als einen übergreifenden oder „Regenschirm“-Diskurs. Dieser Schirm spannt sich über Konzepte wie soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, sozialen Zusammenhalt, Sozialkapital, soziale Ausgrenzung, Lebensqualität und urbane Lebensqualität. Vielleicht in Anlehnung an diese konzeptionelle Unordentlichkeit betrachten einige Wissenschaftler:innen die soziale Nachhaltigkeit sogar als ein Konzept im Chaos. Darin liegt ein Teil des Problems. Was nicht leicht zu verstehen ist, ist auch nicht leicht zu verwalten. Führungskräfte wissen das nur zu gut.
Für Unternehmen gehört es zum Alltag, die Auswirkungen ihrer Geschäfte auf die Finanzlage zu verstehen. Dies zeigt sich in der Gewinn- und Verlustrechnung und allen wirtschaftlichen Indikatoren dazwischen. Doch mit Hilfe von Expert:innen für Nachhaltigkeitsberatung werden auch die Auswirkungen eines Unternehmens auf die Umwelt immer deutlicher. Und daher verfolgbar und verwaltbar.
Bei der sozialen Nachhaltigkeit ist dies noch nicht der Fall, denn Gerechtigkeit, Vielfalt, faire Arbeitspraktiken, soziale Sicherheit, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und viele andere Themen sind nicht leicht zu quantifizieren.
Aber es ist machbar – zumindest aus gesellschaftlicher Sicht.
Zuteilung der richtigen Ressourcen
Aus einer Perspektive der sozialen Rendite argumentiert Ph.D. Sanni Breining von Ramboll, dass es eine wirtschaftliche Grundtatsache ist, dass Gesellschaften mit knappen Ressourcen auskommen müssen. Daher müssen sie ständig entscheiden, wie sie ihre Ressourcen am effizientesten einsetzen, was auch bei Investitionen in soziale Nachhaltigkeit der Fall ist. Sie sagt:
„Aus diesem Grund ist es wichtig, zu überwachen, ob die von uns eingeleiteten Maßnahmen die erwarteten Erträge erbringen. Und ich spreche nicht nur von finanzieller Rendite, sondern - ebenso wichtig - von sozialem Gewinn. Das möchte ich ausdrücklich betonen.“
Sanni Breining arbeitet als Sozioökonomin bei Ramboll Management Consulting. Ein Beruf, in dem es im Wesentlichen darum geht, soziale Interventionen mit Zahlen zu unterlegen. Wie hoch ist zum Beispiel die Kapitalrendite, wenn man frühzeitig in gefährdete Jugendliche investiert und ihnen eine bessere Ausbildung oder Beschäftigungsförderung bietet?
„Indem wir uns für diese „Perspektive der sozialen Rendite“ stark machen, stellen wir sicher, dass wir unsere Ressourcen in Aktivitäten investieren, die langfristige gesellschaftliche Auswirkungen haben und in erster Linie den Menschen und damit auch der Wirtschaft im Allgemeinen zugute kommen. Meines Erachtens ist das ein nachhaltiges Denken.“
Einigung auf einen gemeinsamen Ansatz
Bei der ökologischen Nachhaltigkeit ist das Spielfeld abgesteckt. Ein paar radikale Stimmen mögen die vom Menschen verursachte globale Erwärmung noch immer bestreiten, und Klimamaßnahmen können viele Formen annehmen; aber 1,5 Grad sind 1,5 Grad und eine Tonne CO2 ist eine Tonne, egal ob in Berlin, Bogota oder Brisbane.
Natürlich gibt es einige gängige Instrumente, wie z. B. die Zertifizierungssysteme BREEAM und DGNB, die beide soziale Aspekte einbeziehen; und da ist auch S-LCA, die so genannte soziale Lebenszyklusanalyse.
Doch es wird deutlich, dass bei der Suche nach mehr Informationen über soziale Nachhaltigkeit die Informationsquelle von entscheidender Bedeutung ist, um festzustellen, ob wir von sozialer Nachhaltigkeit im Sinne eines auf den Menschen ausgerichteten Ansatzes bei der Stadtgestaltung, einer sozialsystemischen Sichtweise auf komplexe Interaktionen in einer Gesellschaft oder vielleicht einer „sozialdemokratischen Linse“ mit gleichen Chancen für alle sprechen. Und es gibt noch viele weitere Perspektiven.
Unabhängig von der Sichtweise scheint die soziale Nachhaltigkeit jedoch im Zuge des allgemeinen Strebens nach einer nachhaltigeren Gesellschaft an Bedeutung zu gewinnen. Die Frage ist, ob ein einheitlicherer Ansatz für soziale Nachhaltigkeit diese Entwicklung fördern oder bremsen würde. Die Zeit wird es zeigen.