Chiara Lissandrello, Sébastien Bruyère
21. August 2022
Was macht eine Stadt lebenswert?
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Ballungsgebieten und diese Zahl wird bis 2041 auf 6 Milliarden Menschen anwachsen. Drei unserer Expert:innen erklären, warum Natur, Kultur und menschliches Wohlergehen gemeinsam notwendig sind, um Städte lebenswert zu machen.
Lebensqualität, als Teil von Nachhaltigkeit, beschreibt die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben aller Bewohner:innen von Städten, Regionen und Gemeinden, einschließlich ihres körperlichen, sozialen und geistigen Wohlbefindens. Dieses Konzept stellt die Optimierung der Leistungsfähigkeit und der Integrität des menschlichen Lebens in den Vordergrund.
Allerdings gibt es viele unterschiedliche Meinungen darüber, was eine Stadt wirklich lebenswert macht. Drei Expert:innen für urbane Lebensqualität von Ramboll, die in drei einzigartigen Städten leben, teilen uns hier ihre Erkenntnisse mit:
Chiara Lissandrello - Lead consultant(Rom): In einer lebenswerten Stadt sind Gesellschaft, Umwelt, Wirtschaft und Kultur im Gleichgewicht. Hier wird Nachhaltigkeit auf städtischer Ebene tatsächlich umgesetzt. Eine Strategie für lebenswerte Städte sollte immer ein nachhaltiges Gleichgewicht zwischen den o.a. Komponenten anstreben, auch wenn die genaue Gewichtung überall anders sein wird.
Sébastien Bruyère - Senior consultant (Marseille): Die Lebensqualität eines Ortes hängt von den dort wohnenden Menschen ab, in etwa wie eine mathematische Formel. Beruflich beschäftige ich mich mit urbanen Lösungen, die den Bedürfnissen bestimmter Gemeinden gerecht werden. Für mich persönlich ist es wichtig, dass eine Stadt eine Vielzahl von Möglichkeiten bietet, die mir ein gutes Leben ermöglichen.
Leonard Ng Keok Poh, Country Market Director (Singapur): Eine Menge von Faktoren machen einen Ort lebenswert. Die Lebensqualität wird anhand von Faktoren wie Zugang zu frischem Wasser, Lebensmitteln, Wohnraum, Verkehrsmitteln, Gesundheitsversorgung, Bildung und einer sicheren und stabilen baulichen und natürlichen Umwelt gemessen. Doch basiert die Lebensqualität eines Ortes auch auf sozialen und psychologischen Faktoren, wie Emotionen und Wahrnehmung.
Chiara: Lebenswerte Städte räumen der Natur Priorität ein. Lebenswerte Städte bieten sowohl organische als auch gepflegte Grünflächen, die dazu beitragen, die Risiken und Auswirkungen des Klimawandels abzumildern oder umzukehren, und das psychophysische Wohlbefinden ihrer Bürger:innen zu fördern.
Sébastien: Die Natur und die natürlichen Ressourcen erbringen vielfältige Vorteile für den Menschen, sogenannte Ökosystemleistungen, und ermöglichen bessern Zugang zu öffentlichen Infrastruktur. Deshalb hilft die Integration der Natur in langfristige Entwicklungsstrategien den Städten, ihre sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Ziele zu erreichen.
Leonard: Traditionell werden Städte mit grauer Infrastruktur entwickelt, die eine Abkehr von der natürlichen Umwelt bedeutet. Heute wissen wir jedoch, dass wir uns bei der Gestaltung städtischer Räume von natürlichen Ökosystemen inspirieren lassen müssen, um ihre Lebensqualität zu verbessern. Es ist schwer vorstellbar, dass die Menschen eine Gemeinschaft ohne natürliche Elemente genießen können.
„Wir müssen aufhören, Natur und freien Raum als Luxus zu betrachten - jeder verdient den Zugang zu Natur und freiem Raum.“
Chiara: Lebensqualität ist auf den Menschen bezogen. Das bedeutet, dass die Gemeinden hochwertige Dienstleistungen wie öffentliche Verkehrsmittel, Gesundheits- und Gemeindezentren, Kindergärten, öffentliche Schulen und soziale Dienste anbieten müssen, um die Lebensqualität für alle zu verbessern. Alle Städte müssen Kunst und Bildung als grundlegende Bestandteile des Fortschritts der Stadt und ihrer Bürger:innen fördern.
Leonard: Die Bereitstellung von Sozialdienstleistungen beleuchtet, was den Städten nach eigenen Angaben am meisten am Herzen liegt - die Menschen. Die Bewohner:innen müssen sich sicher, sozial eingebunden und integriert fühlen. Das bedeutet, dass sie leichten Zugang zu erschwinglichen und vielfältigen Wohnmöglichkeiten haben müssen. Diese müssen über öffentliche Verkehrsmittel, Fuß- und Radwege mit Arbeitsplätzen, Bildungseinrichtungen, lokalen Geschäften, öffentlichen Freiflächen und Parks, Gesundheits- und Gemeindediensten sowie Freizeit- und Kulturangeboten verbunden sein.
Sébastien: Städte können soziale Ungleichheiten bekämpfen, indem sie Zugang zu Wohnraum und Infrastruktur, Gleichberechtigung und Teilhabe sowie zu Arbeitsplätzen und Chancen bieten. Lebenswerte menschliche Ökosysteme entstehen am besten in integrativen Kulturen mit kollaborativen Prozessen und einer aufgeschlossenen Regierungspolitik.
Städte können soziale Ungleichheiten bekämpfen, indem sie Zugang zu Wohnraum und Infrastruktur, Gleichberechtigung und Teilhabe sowie zu Arbeitsplätzen und Chancen bieten.
Chiara: Städte wie Rom sind als Kulturmetropolen weltberühmt. Die kulturellen Werte solcher Städte überwiegen oft ihre nicht nachhaltigen Aspekte. Eine lebenswerte Stadt darf sich jedoch nicht nur auf ihre Geschichte verlassen, sondern muss ständig nach Verbesserungen suchen, um ein qualitativ hochwertiges Leben für alle ihre derzeitigen und zukünftigen Bürger zu gewährleisten.
Sébastien: Mein Lieblingsmerkmal der Lebensqualität einer Stadt ist eindeutig die Kultur. Marseille zum Beispiel war schon immer dafür bekannt, nicht den traditionellen Werten des Landes zu folgen. Doch der Ruf, so etwas wie ein Außenseiter zu sein, hat die Identität ihrer Gesellschaft geprägt und gestärkt. Jetzt fühlen sich die Einwohner:innen stark als Teil dieser besonderen Identität. Trotz der Größe der Stadt sorgt diese Identität dafür, dass sich alle dort zu Hause fühlen. Diese Kultur hilft mir und anderen Einwohnern, die schleppende Entwicklung anderer Dimensionen der Lebensqualität geduldig zu ertragen.
„Es steht außer Frage, dass die Städte auf der ganzen Welt in Automassen untergehen. Eine lebenswerte Stadt ist zuallererst eine Stadt ohne Autos!“
Chiara: Es steht außer Frage, dass die Städte auf der ganzen Welt in Automassen untergehen. Eine lebenswerte Stadt ist zuallererst eine Stadt ohne Autos! Die Abkehr vom Auto fördert mittel- und langfristig eine positive Veränderung der Städte und bietet die Möglichkeit, mehr auf den Menschen ausgerichtete Räume wie Parks, Spielplätze, Fußgängerwege und Radwege zu erdenken.
Leonard: Der öffentliche Personennahverkehr war, ist und wird immer ein Dienst für die Gemeinschaft sein. Aber damit eine Stadt wirklich lebenswert wird, muss sie digitale, saubere, intelligente, autonome und intermodale Mobilitätsoptionen mit mehr Fußgänger- und Fahrradplätzen bieten.
Wenn Sie den Herausgeber dieses Artikels kontaktieren möchten, schicken Sie eine E-Mai an: Mercedes Beaudoin, Cheftexterin, Ramboll